Warum lässt Gott das zu, dass aus Nichts Alles wird? Warum lässt Gott das zu, dass das alles, die Schöpfung in all seiner Pracht, unser Herz erfreut? Warum lässt Gott das zu, dass wir uns manchmal so fühlen, als wären wir die glücklichsten Menschen auf dieser Welt? Warum lässt Gott das zu, dass wir Menschen um uns haben, die uns schätzen und wir für sie eine besondere Bedeutung haben? Warum lässt Gott das zu, dass wir Menschen liebevoll in unseren Herzen aufnehmen? Warum lässt Gott das zu, dass wir in der Trauer Trost und neue Zuversicht erfahren? Warum lässt Gott das zu, dass er selbst leidet an jedem Leiden? Warum lässt Gott das zu, dass uns vergeben wird, wenn wir schuldig werden? Warum lässt Gott das zu, dass das Verwundete heil wird? Warum lässt Gott das zu, dass alles Leiden einmal ein Ende hat? Warum lässt Gott das zu, dass das Leben nach dem Tod weitergeht, ohne dass ein Mensch einem anderen noch Schmerz zufügen kann? Warum lässt Gott das zu, dass die Liebe alles überlebt und für immer bleibt?
Sichtbar und unsichtbar
Sichtbare Welt und unsichtbare Welt. Es gibt sie beide. Und beide sind ganz nahe beieinander. Gott und die Engel gehören zur unsichtbaren Welt und doch sind sie immer wieder sichtbar und hörbar geworden. Gott wird Mensch. Engel kommen auf die Erde. Unsichtbares wird sichtbar.
In der Gegend von Bethlehem waren Hirten draussen auf den Feldern. Sie hielten in der Nacht Wache bei ihrer Herde. Auf einmal trat ein Engel des Herrn zu ihnen, und die Herrlichkeit des Herrn umstrahlte sie. Und auf einmal fängt der Engel an zu reden: ,Fürchtet euch nicht. Ich habe eine frohe Botschaft für euch. Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren: Er ist Christus, der Herr.’ Und plötzlich war dieser Engel umgeben von einem ganzen himmlischen Heer von Engeln. Und sie lobten Gott und riefen: Gottes Herrlichkeit erfüllt den Himmel und sein Friede kommt auf die Erde zu den Menschen, denen er sich in Liebe zuwendet. Die Engel verliessen die Hirten und kehrten in den Himmel zurück.
Die unsichtbaren Engel kommen zur Welt, zu den Hirten, leuchten und sprechen zu ihnen, werden sichtbar, hörbar, spürbar und kehren wieder zurück in die unsichtbare Welt, von da sie gekommen sind. Die erste Botschaft der Engel an die Hirten ist gewesen: ,Fürchtet euch nicht! In der Stadt Davids ist der Retter geboren, Christus, der Herr.’ Die Engel sehen den Retter, Jesus Christus. Sie kennen ihn bereits aus dem Himmel. Die unsichtbare Welt kommt auf die sichtbare Welt. Die Engel loben Gott dafür. Der Himmel will immer wieder zu uns auf die Erde kommen. Er sehnt sich nach uns.
Wir alle sollen sehen, wie gut der Himmel ist, wie gut es ist, wenn der Himmel auf die Erde kommt, wie gut es ist, wenn Jesus da ist, wie gut es ist, wenn die Engel da sind. Manchmal sagen wir von einem Menschen: ‘Er ist wie ein Engel für mich gewesen.’ Wenn jemand uns geholfen hat, vielleicht sogar gerettet hat – so wie manchmal ein Mensch sein Leben riskiert und ins Wasser springt, um einen anderen Menschen zu retten, der am Ertrinken ist.
Gott befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen und dich zu tragen auf seinen Händen. So nahe ist der Himmel auf Erden.
Sehnsucht
Sehnsucht ist der ‘Beweis’, dass es noch mehr gibt. Sie ist eine Form der Liebe und öffnet uns für das Mehr.
Im Brief an die Römer schreibt der Apostel Paulus auch von dieser Sehnsucht. Er sagt sogar, dass nicht nur wir Menschen, sondern die ganze Schöpfung sich sehnt nach mehr – nach Erlösung, nach Frieden, nach Vollendung: ‘Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, auch wir seufzen in unseren Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne und Töchter offenbar werden.’
Die Sehnsucht ist in uns angelegt auf die Begegnung mit einem umfassenden Du, mit dem lebendigen Gott. Wenn sich die Sehnsucht erfüllt, sind wir ganz bei unserem Du, bei unserem Gott angekommen. Dann ist alles offenbar, offensichtlich, sichtbar für alle. Jetzt ist es noch bedeckt, doch einmal wird es für alle sichtbar sein: Gott und seine Kinder. Jesus und seine Brüder und Schwestern. Wenn sein Reich vollendet wird, wird alles offenbar sein, ist nichts mehr verborgen. Schon jetzt dürfen wir in unseren Mitmenschen unsere Brüder und Schwestern sehen. Dann wird bereits heute immer wieder unsere Sehnsucht gestillt – in der Verbundenheit untereinander, miteinander und im Bewusstsein: Gott ist da, Gott ist nah in den Menschen.
Berge versetzen
Eine Person erzählt mir, wie sie körperlich und seelisch leidet an ihrem Perfektionismus und ihrem Wunsch, allen zu gefallen. Es kommt ihr vor wie ein Kampf gegen einen Berg, den man nie gewinnen kann. Auf einmal sieht sie vor ihrem inneren Auge einen solchen Berg mit einer neuen Erkenntnis – ‘er sei von Gott gegeben, nicht zum Kampf, sondern zur Annahme’. Sie erkannte sich selbst in diesem Berg und alle Situationen im Leben, gegen die sie bisher angekämpft habe, im Berufs- und Privatleben. Der Berg ist jetzt für sie nicht mehr der hohe Berg, wo man nicht darüber sieht. Sie sieht den Berg von oben und erkennt in ihm ein Geschenk. Ein Berg zum Leben, zum Wandern, zum Ausprobieren, zum Drüber schauen, aber nicht um dagegen anzukämpfen. Sie hat ein Ja gefunden zu ihrem Berg, zu sich selbst, den anderen Menschen und Situationen um sich herum.
Das erinnert mich an die Geschichte, in der Jesus seine Freunde ermutigt, ihren Glauben auf die Grösse eines Senfkornes zu ‘reduzieren’ und dann werden sich die Berge anfangen zu bewegen. In der Annahme des eigenen Berges entsteht ein Spielraum, ein Lebensraum, der nicht statisch und in Stein gemeisselt ist. Durch die Bejahung des eigenen und fremden Lebens versetzen sich Berge. Es bleiben Berge, aber sie stehen mir nicht im Wege, sondern sie gehen mit mir neue Wege. Für einen Glauben wie ein Senfkorn braucht es keinen Perfektionismus. Glaube bedeutet Vertrauen, ist ein Beziehungs- und nicht ein Leistungsgeschehen. Wenn ich in Beziehung bin und im Vertrauen in der Grösse eines Senfkorns, dann kommt Bewegung hinein und es versetzen sich Berge.
Meditation
Was ist Meditation? Ein Weg nach innen. In der Stille da sein. Sich lauschend öffnen. Horchen im Hier und Jetzt. Achtsam sein auf das Unaufdringliche, auf das Leise, Unmerkliche. Den innersten Raum leeren, damit Gott ihn füllen kann. Die christliche Meditation ist ein Beziehungsgeschehen. Die Begegnung mit dir und deinem dich-liebenden Gott. Im Zentrum steht das Wahrnehmen (von allem, was sich zeigt) und das Ausrichten auf mein Gegenüber, das immer da ist. Die Hingabe an ein Du führt zum wahren Wesenskern. Darin liegt das Geheimnis von dem Martin Buber sagt: «Ich werde am Du, Ich werdend spreche ich Du.» Die bedingungslose Liebe Gottes ermöglicht mir zu sein, wie ich bin. Und in diesem Sein kann ich atmen, tief ein- und ausatmen und ‘werden, der ich bin.‘
Vergebung
Petrus trat zu Jesus und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er an mir schuldig wird? Bis sieben Mal? Jesus sagte zu ihm: Ich sage dir nicht bis sieben Mal, sondern bis zu 70 mal 7.
Die Vergebung ist etwas, was gar nicht einfach ist. Das merkt auch der Apostel Petrus. Darum fragt er Jesus, wie oft er vergeben muss. Alles, was man ‘muss’, geht nicht leicht von der Hand. Schon ‘nur’ einmal vergeben, kann eine grosse Hürde sein, ein zähes Ringen, ein langer Prozess. Eigentlich ist Petrus schon sehr grosszügig unterwegs, wenn er von sieben Mal vergeben spricht. Sieben Mal vergeben … der gleichen Person, vielleicht sogar, wenn es immer um die gleiche Sache geht. Ja, da ist sieben Mal schon viel. Petrus hat ein Herz zum Vergeben, aber er ist auch ehrlich und steht vor Jesus zu seinen Grenzen. Wir kennen das vielleicht auch von uns, wenn wir irgendeinmal innerlich oder äusserlich sagen: Jetzt ist aber genug!
Wie antwortet Jesus auf die Frage: Wie oft vergeben? Jesus genügt sieben Mal nicht. Er gibt als Antwort eine Zahl, die bedeutend höher ist als die 7, nämlich 70 mal 7. Mathematisch korrekt gäbe das 490 mal. 490 mal seinem Bruder, seiner Schwester vergeben. Natürlich geht es bei der Antwort von Jesus nicht um eine Rechenaufgabe, wie oft man vergeben soll. 490 mal und dann ist Schluss. Nein, mit dieser Antwort 70 mal 7 will er Petrus und uns die Unendlichkeit der Vergebung vor Augen führen. Es gibt keine Begrenzung in der Zahl und in der Menge der Schuld, wenn es um Vergebung geht. Die Vergebung ist radikal. Die Vergebung ist kompromisslos. Die Vergebung ist ein Lebensstil, mir und anderen gegenüber.
Darum nimmt Jesus diese Vergebung, die ihm so am Herzen liegt, auch in das Vater-unser-Gebet hinein. So sollen wir zu unserem Vater im Himmel beten: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Vergib uns unsere Schuld (hier steht keine Zahl, es spielt keine Rolle, wie gross unsere Schuld ist, es wird auch nicht unterschieden zwischen kleiner und grosser Schuld). Und Jesus lehrt uns in diesem Gebet, dass wir es genauso machen sollen wie er … wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Auch hier steht keine Zahl. Nach oben offen. Vergebung ist nach oben unbegrenzt.
Wohltat
Jesus offenbart das Wesen des Vaters im Himmel mit Umarmen und Segnen. ‚Jesus umarmte die Kinder und segnete sie, indem er ihnen die Hände auflegte.‘ So steht es im Markus-Evangelium. Damit zeigt er, zu welchem Vater wir im Vaterunser beten.
Die Umarmung (das griechische Wort betont: in die Arme schliessen) verdeutlicht, dass alles, was draussen und ausgeschlossen ist, in den Raum des Schutzes und der Wärme hineingeholt und darin umschlossen wird. Keine worthafte Rede kann die Geste hier ersetzen, weil sie auf ein Grundbedürfnis des Menschen antwortet, das vorsprachlich ist. Das Berührt werden. Das Umfangen werden. Das Wort ‘Segnen’ (griechisch: ein gutes Wort sagen) impliziert auch eine Wohltat. Die Handauflegung Jesu ist auch ohne Worte eine Wohltat. Unschwer können wir uns dies als Bild vor Augen halten und dabei beobachten, dass sich die ausgebreiteten Arme wie ein Dach schützend über das Kind breiten. So wird der Raum der Geborgenheit, der bereits durch die umschliessenden Arme geschaffen wird, vollends abgeschirmt gegen jedes Ungemach.
Das heisst Gott VATER nennen: in seinen geschützten Lebensraum eintreten dürfen und darin dankbar und glücklich sein. Wie oft ist dieses Erleben verschüttet und unglücklich-leidvoll verbaut. Nicht selten ist der Grund, dass der Vater für das Kind nicht da war, physisch oder psychisch fehlte, oder dass die ‘Liebe’ des Vaters das Kind erdrückte.
In der Zuwendung Jesu zu den Menschen wird unzweifelhaft klar, dass seine Väterlichkeit in erster Linie darauf abzielt, den Ausgeschlossenen wieder einen Platz in der grossen Familie Gottes zu geben. Dazu wird Jesus für manche Menschen bewusst zum Vater, die aus Angst, Scham und Ausgeschlossen sein sich nicht berechtigt fühlen, dazuzugehören.
Hoffnung
Gott ist liebende Freiheit. In den Worten und Taten von Jesus hat Gott uns zu verstehen gegeben, dass er ein Gott der Menschen sein will: ein Gott, der Raum für uns schafft und Zeit für uns hat. Ein Gott, der will, dass wir Leben haben und es in Fülle haben. Gott, der uns nicht braucht, um Gott zu werden und Gott zu sein, weil er in sich selbst ewig glücklicher Dialog ist (Vater, Sohn und Heiliger Geist). Dieser Gott hat sich selbst über sich selbst hinaus so an uns verschenkt, dass er – mit Charles Péguy gesprochen – unser ‘Gefangener’ geworden ist. Gott hat seine eigene Hoffnung in unsere sterblichen Hände gelegt.
Die sterblichen Menschenhände haben das Geschenk Gottes sterben lassen. Doch Gotteshände haben es zur Auferstehung gebracht. Das, was Gott schenkt, kann in Ewigkeit nicht sterben, weil es das Leben ist. Darum kann Jesus sagen: Ich bin das Leben. Ein Leben, das liebt, leidet, heilt, verspottet und umgebracht wird – und gerade am Tiefpunkt aufersteht zu neuem unvergänglichem Leben. Das ist unsere Hoffnung, die nicht stirbt. Es ist die Hoffnung, welche wir getrost in die ewigen, unsterblichen Hände Gottes legen dürfen.
Opfer
Das Gotteskonzept der Christenheit bedeutet einen radikalen Bruch mit den meisten antiken Religionen. Anstelle eines Gottes, der Menschen, Tiere oder Feldfrüchte ‘isst’, die auf dem Altar geopfert werden, stellte das Christentum die kühne Behauptung auf, dass wir mit Gottes eigenem Leib gespeist werden. Das hat alles auf den Kopf gestellt und die scheinbare Logik eines Denkens in Kategorien von Leistung und Gegenleistung ausgehebelt. Solange wir im Blick auf Gottes angeblich beleidigtes Gerechtigkeitsempfinden eine Art Vergeltungslogik ins Spiel bringen (Strafforderung für Fehlverhalten), tauschen wir unsere unverwechselbare christliche Botschaft für jenen kalten und herzlosen Justizvollzug ein, der im Laufe der Geschichte in den meisten Gesellschaften gang und gäbe war. Es ist an der Zeit, dass die Christenheit das tiefere biblische Thema einer stärkenden oder restaurativen Gerechtigkeit neu entdeckt, die auf Heilung und Versöhnung zielt und nicht auf Strafe.
Aus dem Buch von Richard Rohr, Alles trägt den einen Namen
Zärtlichkeit
Vaterunser. Das Wesen des Vaters im Himmel. Der Schweizer Theologe Hermann-Josef Venetz beschreibt das für mich eindrücklich und berührend:
«Ich habe mich schon oft gefragt: Ist der Gott Jesu ein so zärtlicher Gott, weil Jesus auch mit den Menschen so zärtlich umgeht, oder geht Jesus mit den Menschen so zärtlich um, weil er an einen zärtlichen Gott glaubt? Sicher ist, dass die Zärtlichkeit Jesu nichts Verniedlichendes und überhaupt nichts Kitschiges an sich hat. Im Gegenteil: Gerade bei ihm kann man lernen: Je glaubensfester, desto zärtlicher. Je reifer, desto zärtlicher. Je erwachsener, desto zärtlicher. Je verantwortungsbewusster, desto zärtlicher. Das vertraute, liebevolle Abba-Sagen (lieber Papi) verrät einen Lebensstil. Abba sagen zärtliche Menschen, d. h. reife, erwachsene, verantwortungsbewusste Menschen, gleichberechtigte Söhne und Töchter, die eben auch miteinander verantwortungsbewusst und gleichberechtigt – und zärtlich – umgehen. Die Anrede im Vaterunser ist wie eine Einladung zur Zärtlichkeit. Wenn wir uns vornehmen, mit den Augen des Vaterunsers die Schöpfung zu betrachten, bleibt uns nichts anderes übrig, als auch die Schöpfung in diese Zärtlichkeit mit einzubeziehen. Und umgekehrt: Wenn wir zärtlich sind mit der Schöpfung, werden wir auch eine Ahnung bekommen vom zärtlichen Gott. Legen wir doch unsere Ängste ab. Scheuen wir uns nicht, zärtlich zu sein mit den Blumen im Garten und mit den Regenwürmern und mit den Bäumen. Nur echte Zärtlichkeit wird uns auch zu glaubhaften politischen Entscheidungen führen. Scheuen wir uns auch nicht, zärtlich zu sein miteinander, wir helfen so einander zur echten Reife. Und scheuen wir uns nicht, zärtlich zu sein mit Gott, der unser Vater und unsere Mutter ist.»