Vertrauen in „Störungen“

Sich in lebendigem Vertrauen zu üben, heisst, in manchen „Störungen“, einen Adler zu erkennen, der seine Jungen stört, um sie fliegen zu lernen. Im Buch Mose lesen wir: „Wie ein Adler, der seine Brut aufstört zum Flug und über seinen Jungen schwebt, so breitet Gott seine Flügel aus, nimmt uns und trägt uns auf seinen Schwingen.“ Die Adlerjungen werden nicht aus dem Nest geworfen, um abzustürzen, sondern weil sie anders nicht fliegen lernen. Wir werden aufgestört, um unsere Flugfedern zu entfalten, um also gerade in Störungen zu begreifen, wozu wir eigentlich berufen sind.

Wo habe ich eine Störung erlebt, die ich mit meiner Berufung verknüpfen kann? Wo stehe ich heute in meiner Berufungsgeschichte? Was hat sich erfüllt? Wonach sehne ich mich weiter?

Wie im Himmel so auf Erden

Die Erde ist randvoll mit Himmel (sagte eine Dichterin im 19. Jahrhundert).

Der Himmel ist ein Bild von Gottes Gegenwart. Da ist es tröstlich, dass über uns der Himmel ist. Die Wolken sind ,darunter‘. Wenn sie in dichten und dunklen Formationen daherkommen, machen sie es uns nicht leicht den Himmel zu sehen. Sie können den Blick auf den Himmel trüben, aber nie den Himmel wegnehmen. Doch am Ende müssen alle Wolken wegziehen und dem Himmelblau Platz machen, damit das Reich Gottes durch nichts mehr aufgehalten und gestört werden kann.

Jesus trägt uns im ‚Vaterunser‘ auf zu unserem Vater im Himmel zu beten: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden.“ Da spüren wir die tiefe Sehnsucht Jesu, dass alles – im Himmel und auf Erden – erfüllt werde mit der Herrlichkeit Gottes. In diesem Gebet teilt er mit uns diese Vision, diese Lebenssehnsucht. Sehnsucht wird im Wörterbuch als „inniges, schmerzliches Verlangen“ umschrieben. Die Sehnsucht verschwindet, wenn sich das Leben vollendet, wenn das Leben voll endet und damit gefüllt beginnt. Die Erde ist randvoll mit Himmel.

Irritiert fasziniert

Katharina von Siena, eine italienische Kirchenlehrerin im 14. Jh., war so fasziniert von der Liebe Gottes, dass sie folgendes Gebet gesprochen hat, welches wir heute im Kirchengesang finden. Es trägt den eigenartigen Titel: Du Narr aus Liebe.

‘Gott, du Feuer und Abgrund der Liebe, du Narr aus Liebe, brauchst du denn dein Geschöpf? Du benimmst dich, als ob du ohne dein Geschöpf nicht mehr leben könntest. Dabei bist du doch das Leben, von dem alles Leben hat. Warum also bist du deinem Geschöpf so närrisch zugetan?’

Närrisch kann man übersetzen mit ‘übermässig und unvernünftig’. Als würde Katharina  sagen und Gott fragen: Wie kannst du den Menschen nur so sehr, so übermässig und  unvernünftig lieben? Was hast du dir dabei gedacht? Was ist dein Grund? Was haben wir Menschen getan, dass du das tust?

Die Antwort liegt darin, dass wir eben nichts getan haben, sondern dass Gott getan hat. Er hat uns geschaffen, er hat uns gewollt, er hat uns zu seinem Ebenbild gemacht, ihm sind wir als Original ähnlich, darum kann er nicht anders als seine Geschöpfe lieben, wie eine liebende Mutter und ein liebender Vater nicht anders können, als ihre Kinder lieben … in jedem Fall, bedingungslos, übermässig oder eben närrisch. 

Vaterunser

Jesus hat sein Gebet nicht mit ‘Bitte, bitte, lieber Gott, gib doch, mach doch, tu doch, lass doch …!’ begonnen. In seiner Spiritualität hat Gott nicht die Funktion eines Nothelfers. Gott ist für ihn der grosse Wert, der grosse Inhalt seines Lebens, er ist sein ,himmlischer’ Lebensgefährte in guten und in bösen Tagen. Nicht die Not lehrt ihn beten, sondern die Begeisterung darüber, dass das Dasein von Gott – von einem solchen Gott! – getragen ist. ‘Abba (vertraute, kindliche Anredeform von Vater), du bist ganz wunderbar, ganz herrlich!’ – ist das ‘religiöse Grundgefühl’ in seinem Herzen. Das ist es, was er seinem Gott zuallererst sagen will, wenn er zu ihm betet. Und dieses Grundgefühl muss er auch Gott, seinem Abba wünschen: diese Freude, diese Glückseligkeit, dieses Erfüllt-Sein, diese heile-heilige Herrlichkeit.

Aus dem Buch: Das Vaterunser von Reinhard Körner

Gott in Not

Es war in der Haftanstalt Berlin-Tegel, im Juli 1944, wenige Monate vor seiner Hinrichtung, als der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer die folgenden Zeilen schrieb:

Menschen gehen zu Gott in ihrer Not, flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot, um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.

Menschen gehen zu Gott in SEINER Not, finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot, sehn ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod. Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.

Gott geht zu allen Menschen in IHRER Not, sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.

Der gottverlassene Gott

Jesus rief mit lauter Stimme am Kreuz: ‘Mein, mein Gott, warum hast du mich verlassen?’ Gott ist im Sterben Jesu in seiner Gottverlassenheit, in alles Leid und Elend dieser Welt hineingestorben. In seiner Gottverlassenheit leidet er in allen Leiden. Er verbindet sich mit aller Verlassenheit, die Menschen erleben können, bis in den Tod hinein. Durch seine Gottverlassenheit und Gottverbundenheit weint Gott mit den Weinenden und trocknet ihre Tränen. Er steigt hinab in das Reich der Toten, um ihnen Leben einzuhauchen. Er steigt hinauf in den Himmel, um eine bleibende Wohnung zu bereiten. 

Warum lässt Gott das zu?

Warum lässt Gott das zu, dass aus Nichts Alles wird? Warum lässt Gott das zu, dass das alles, die Schöpfung in all seiner Pracht, unser Herz erfreut? Warum lässt Gott das zu, dass wir uns manchmal so fühlen, als wären wir die glücklichsten Menschen auf dieser Welt? Warum lässt Gott das zu, dass wir Menschen um uns haben, die uns schätzen und wir für sie eine besondere Bedeutung haben? Warum lässt Gott das zu, dass wir Menschen liebevoll in unseren Herzen aufnehmen? Warum lässt Gott das zu, dass wir in der Trauer Trost und neue Zuversicht erfahren? Warum lässt Gott das zu, dass er selbst leidet an jedem Leiden? Warum lässt Gott das zu, dass uns vergeben wird, wenn wir schuldig werden? Warum lässt Gott das zu, dass das Verwundete heil wird? Warum lässt Gott das zu, dass alles Leiden einmal ein Ende hat? Warum lässt Gott das zu, dass das Leben nach dem Tod weitergeht, ohne dass ein Mensch einem anderen noch Schmerz zufügen kann? Warum lässt Gott das zu, dass die Liebe alles überlebt und für immer bleibt?   

Sichtbar und unsichtbar

Sichtbare Welt und unsichtbare Welt. Es gibt sie beide. Und beide sind ganz nahe beieinander. Gott und die Engel gehören zur unsichtbaren Welt und doch sind sie immer wieder sichtbar und hörbar geworden. Gott wird Mensch. Engel kommen auf die Erde. Unsichtbares wird sichtbar.

In der Gegend von Bethlehem waren Hirten draussen auf den Feldern. Sie hielten in der Nacht Wache bei ihrer Herde. Auf einmal trat ein Engel des Herrn zu ihnen, und die Herrlichkeit des Herrn umstrahlte sie. Und auf einmal fängt der Engel an zu reden: ,Fürchtet euch nicht. Ich habe eine frohe Botschaft für euch. Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren: Er ist Christus, der Herr.’ Und plötzlich war dieser Engel umgeben von einem ganzen himmlischen Heer von Engeln. Und sie lobten Gott und riefen: Gottes Herrlichkeit erfüllt den Himmel und sein Friede kommt auf die Erde zu den Menschen, denen er sich in Liebe zuwendet. Die Engel verliessen die Hirten und kehrten in den Himmel zurück.

Die unsichtbaren Engel kommen zur Welt, zu den Hirten, leuchten und sprechen zu ihnen, werden sichtbar, hörbar, spürbar und kehren wieder zurück in die unsichtbare Welt, von da sie gekommen sind. Die erste Botschaft der Engel an die Hirten ist gewesen: ,Fürchtet euch nicht! In der Stadt Davids ist der Retter geboren, Christus, der Herr.’ Die Engel sehen den Retter, Jesus Christus. Sie kennen ihn bereits aus dem Himmel. Die unsichtbare Welt kommt auf die sichtbare Welt. Die Engel loben Gott dafür. Der Himmel will immer wieder zu uns auf die Erde kommen. Er sehnt sich nach uns.

Wir alle sollen sehen, wie gut der Himmel ist, wie gut es ist, wenn der Himmel auf die Erde kommt, wie gut es ist, wenn Jesus da ist, wie gut es ist, wenn die Engel da sind. Manchmal sagen wir von einem Menschen: ‘Er ist wie ein Engel für mich gewesen.’ Wenn jemand uns geholfen hat, vielleicht sogar gerettet hat – so wie manchmal ein Mensch sein Leben riskiert und ins Wasser springt, um einen anderen Menschen zu retten, der am Ertrinken ist.

Gott befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen und dich zu tragen auf seinen Händen. So nahe ist der Himmel auf Erden.  

Sehnsucht

Sehnsucht ist der ‘Beweis’, dass es noch mehr gibt. Sie ist eine Form der Liebe und öffnet uns für das Mehr.

Im Brief an die Römer schreibt der Apostel Paulus auch von dieser Sehnsucht. Er sagt sogar, dass nicht nur wir Menschen, sondern die ganze Schöpfung sich sehnt nach mehr – nach Erlösung, nach Frieden, nach Vollendung: ‘Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, auch wir seufzen in unseren Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne und Töchter offenbar werden.’

Die Sehnsucht ist in uns angelegt auf die Begegnung mit einem umfassenden Du, mit dem lebendigen Gott. Wenn sich die Sehnsucht erfüllt, sind wir ganz bei unserem Du, bei unserem Gott angekommen. Dann ist alles offenbar, offensichtlich, sichtbar für alle. Jetzt ist es noch bedeckt, doch einmal wird es für alle sichtbar sein: Gott und seine Kinder. Jesus und seine Brüder und Schwestern. Wenn sein Reich vollendet wird, wird alles offenbar sein, ist nichts mehr verborgen. Schon jetzt dürfen wir in unseren Mitmenschen unsere Brüder und Schwestern sehen. Dann wird bereits heute immer wieder unsere Sehnsucht gestillt – in der Verbundenheit untereinander, miteinander und im Bewusstsein: Gott ist da, Gott ist nah in den Menschen.  

Berge versetzen

Eine Person erzählt mir, wie sie körperlich und seelisch leidet an ihrem Perfektionismus und ihrem Wunsch, allen zu gefallen. Es kommt ihr vor wie ein Kampf gegen einen Berg, den man nie gewinnen kann. Auf einmal sieht sie vor ihrem inneren Auge einen solchen Berg mit einer neuen Erkenntnis – ‘er sei von Gott gegeben, nicht zum Kampf, sondern zur Annahme’. Sie erkannte sich selbst in diesem Berg und alle Situationen im Leben, gegen die sie bisher angekämpft habe, im Berufs- und Privatleben. Der Berg ist jetzt für sie nicht mehr der hohe Berg, wo man nicht darüber sieht. Sie sieht den Berg von oben und erkennt in ihm ein Geschenk. Ein Berg zum Leben, zum Wandern, zum Ausprobieren, zum Drüber schauen, aber nicht um dagegen anzukämpfen. Sie hat ein Ja gefunden zu ihrem Berg, zu sich selbst, den anderen Menschen und Situationen um sich herum.

Das erinnert mich an die Geschichte, in der Jesus seine Freunde ermutigt, ihren Glauben auf die Grösse eines Senfkornes zu ‘reduzieren’ und dann werden sich die Berge anfangen zu bewegen. In der Annahme des eigenen Berges entsteht ein Spielraum, ein Lebensraum, der nicht statisch und in Stein gemeisselt ist. Durch die Bejahung des eigenen und fremden Lebens versetzen sich Berge. Es bleiben Berge, aber sie stehen mir nicht im Wege, sondern sie gehen mit mir neue Wege. Für einen Glauben wie ein Senfkorn braucht es keinen Perfektionismus. Glaube bedeutet Vertrauen, ist ein Beziehungs- und nicht ein Leistungsgeschehen. Wenn ich in Beziehung bin und im Vertrauen in der Grösse eines Senfkorns, dann kommt Bewegung hinein und es versetzen sich Berge.