Wenn alles offen liegt …

Der Schriftsteller Heinrich Zschokke (gest. 1848) hatte eine eigentümliche Gabe. Dann und wann, wenn er einem fremden Menschen ins Angesicht sah, enthüllte sich ihm wie durch ein zweites Gesicht die Vergangenheit dieses Menschen. Eines Tages kehrte dieser Mann im Gasthof zum Rebstock in Waldshut ein, wo zwei Fremde sich eben über Eigentümlichkeiten der Schweizer lustig machten. Ein junger Mann, der ihm gegenüber sass, trieb den ausgelassensten Witz. Da erwachte in Zschokke die Gabe des inneren Gesichts, also dass das Leben dieses jungen Mannes an ihm vorüberging. Nun wandte sich Zschokke an ihn mit der Frage, ob er ihm ehrlich antworten werde, wenn er ihm das Geheimste aus seinem Leben mitteilen würde, obwohl er ihn noch niemals gesehen habe. Jener versprach es. Und nun erzählte Zschokke, was er innerlich gesehen hatte und die ganze Tischgesellschaft erfuhr die Geschichte des jungen Kaufmanns, seiner Lehrjahre, seiner kleinen Verirrungen und eine von ihm begangene Verfehlung an der Kasse seines Meisters.

Er beschrieb ihm auch das unbewohnte Zimmer mit geweissten Wänden, wo rechts von der braunen Tür auf einem Tisch der schwarze Geldkasten gestanden habe. Es herrschte bei der Erzählung in der Gesellschaft Totenstille. Nur manchmal unterbrach sich Zschokke mit der Frage, ob er die Wahrheit rede. Voller Entsetzen bestätigte der junge Kaufmann jeden Umstand, sogar jenen Diebstahl.

Warum konnte er die Wahrheit vor der versammelten Tischgemeinschaft ‚ohne weiteres‘ eingestehen? Er nahm wohl innerlich wahr, dass Zschokke es gut mit ihm meint, dass er ihn nicht blossstellen, sondern heilsam weiterführen wollte.

Wenn schon einem gewöhnlichen Menschen wie diesem Schriftsteller gelegentlich solch ein wunderbares Wissen um andere gegeben war, wer will daran zweifeln, dass dies im höchsten Masse bei Gott der Fall sein wird. Ich werde nie vergessen, als ich eines Nachts ,erwachte‘ und mein ganzes Leben in einem Film vorüberlief. Alles war aufgezeichnet. Kein Detail fehlte. Diese Erfahrung hat mein Herz wachgerüttelt. Nach diesem Traum hatte ich keinen Zweifel, dass Gott alles weiss. Es wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen, etwas davon zu leugnen (und ich bezweifle, dass es mir überhaupt möglich gewesen wäre).

Stell dir mal vor: Eines Tages stehst du vor dem grossen weissen Thron und es wird dir bewusst, dass dein ganzes Leben mit allen seinen Gedanken, Worten und Taten offen vor dem Richter liegt wie die aufgeschlagenen Seiten eines Buches. Wirst du dann den Versuch unternehmen es zu leugnen? Oder wirst du dann eher wie der junge Mann in Waldshut bestätigen, dass dieser Gott die Wahrheit gesprochen hat?

Das Richten im biblischen Sinne ist ein barmherziges Aufrichten und Zurechtrichten für die Opfer und Täter. Wie sagte der Pfarrer anlässlich meiner Taufe: „Gott richtet auch auf krummen Wegen gerade.“ Zurechtrichten (Zurechtbringen) bedeutet auch die stärksten Verbiegungen in einem Leben gerade zu richten – zum Heil des Menschen.

Wer kann da noch anhaltend widerstehen, wenn er in dieser Ohnmacht und in diesem Schmerz sanft und entschieden von einer bedingungslosen Liebe gezogen wird? Wer kann dich abhalten, vor Christus auf die Knie zu gehen und freudig zu bekennen, dass er der HERR, dein Gott ist?

HERR ist die deutsche Übersetzung von: „Ich bin da!“ Weil er da ist, weiss und sieht er alles. Es bedeutet aber noch mehr: „Ich bin für dich da!“ Weil er für dich da ist, kann er dich aufrichten und zurechtrichten in allen Dingen.

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